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Der Schneidermeister Hediger in Zürich war in dem Alter, wo der fleißige Handwerksmann
schon anfängt, sich nach Tisch ein Stündchen Ruhe zu gönnen.
So saß er denn an einem schönen Märztage nicht in seiner leiblichen Werkstatt,
sondern in seiner geistigen, einem kleinen Sonderstübchen, welches er sich seit Jahren zugeteilt hatte.
Er freute sich, dasselbe ungeheizt wieder behaupten zu können;
denn weder seine alten Handwerkssitten, noch seine Einkünfte erlaubten ihm, während des Winters sich ein besonderes Zimmer erwärmen zu lassen, nur um darin zu lesen.
Und das zu einer Zeit, wo es schon Schneider gab, welche auf die Jagd gehen und täglich zu Pferde sitzen,
so eng verzahnen sich die Übergänge der Kultur ineinander.
Meister Hediger durfte sich aber sehen lassen in seinem wohlaufgeräumten Hinterstübchen.
Er sah fast eher einem amerikanischen Squatter, als einem Schneider ähnlich;
ein kräftiges und verständiges Gesicht mit starkem Backenbart, von einem mächtigen kahlen Schädel überwölbt,
neigte sich über die Zeitung »Der schweizerische Republikaner« und las mit kritischem Ausdruck den Hauptartikel.
Von diesem Republikaner standen wenigstens fünfundzwanzig Foliobände, wohlgebunden, in einem kleinen Glasschranke von Nußbaum,
und sie enthielten fast nichts, das Hediger seit fünfundzwanzig Jahren nicht mit erlebt und durchgekämpft hatte.
Außerdem stand ein »Rotteck« in dem Schranke, eine Schweizergeschichte von Johannes Müller
und eine Handvoll politischer Flugschriften und dergleichen;
ein geographischer Atlas und ein Mäppchen voll Karikaturen und Pamphlete,
die Denkmäler bitter leidenschaftlicher Tage, lagen auf dem untersten Brette.
Die Wand des Zimmerchens war geschmückt mit den Bildnissen von Kolumbus, von Zwingli, von Hutten, Washington und Robespierre;
denn er verstand keinen Spaß und billigte nachträglich die Schreckenszeit.
Außer diesen Welthelden schmückten die Wand noch einige schweizerische Fortschrittsleute mit der beigefügten Handschrift in höchst erbaulichen
und weitläufigen Denkschriften, ordentlichen kleinen Aufsätzchen.
Am Bücherschrank aber lehnte eine gut im Stand erhaltene,
blanke Ordonnanzflinte, behängt mit einem kurzen Seitengewehr und einer Patrontasche, worin zu jeder Zeit dreißig scharfe Patronen steckten.
Das war sein Jagdgewehr, womit er nicht auf Hasen und Rebhühner,
sondern auf Aristokraten und Jesuiten, auf Verfassungsbrecher und Volksverräter Jagd machte.
Bis jetzt hatte ihn ein freundlicher Stern bewahrt, daß er noch kein Blut vergossen, aus Mangel an Gelegenheit;
dennoch hatte er die Flinte schon mehr als einmal ergriffen und war damit auf den Platz geeilt, da es noch die Zeit der Putsche war,
und das Gewehr mußte unverrückt zwischen Bett und Schrank stehen bleiben;
»denn«, pflegte er zu sagen, »keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen,
wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt!«
Als der wackere Meister mitten in seinem Artikel vertieft war, bald zustimmend nickte und bald den Kopf schüttelte,
trat sein jüngster Sohn Karl herein, ein angehender Beamter auf einer Regierungskanzlei.
»Was gibt’s?« fragte er barsch; denn er liebte nicht in seinem Stübchen gestört zu werden.
Karl fragte, etwas unsicher über den Erfolg seiner Bitte,
ob er des Vaters Gewehr und Patrontasche für den Nachmittag haben könne, da er auf den Drillplatz gehen müsse.
»Keine Rede, wird nichts daraus!« sagte Hediger kurz.
»Und warum denn nicht? Ich werde ja nichts daran verderben!« fuhr der Sohn kleinlaut fort und doch beharrlich,
weil er durchaus ein Gewehr haben mußte, wenn er nicht in den Arrest spazieren wollte. Allein der Alte versetzte nur um so lauter:
»Wird nichts daraus! Ich muß mich nur wundern über die Beharrlichkeit meiner Herren Söhne, die doch in andern Dingen so unbeharrlich sind,
daß keiner von allen bei dem Berufe blieb, den ich ihn nach freier Wahl habe lernen lassen!
Du weißt, daß deine drei älteren Brüder der Reihe nach,
so wie sie zu exerzieren anfangen mußten, das Gewehr haben wollten und daß es keiner bekommen hat!
Und doch kommst du nun auch noch angeschlichen!
Du hast deinen schönen Verdienst, für niemand zu sorgen – schaff dir deine Waffen an, wie es einem Ehrenmanne geziemt!
Dies Gewehr kommt nicht von der Stelle, außer wenn ich es selbst brauche!«
Gottfried Keller
Das Fähnlein der sieben Aufrechten / The Banner of the Upright Seven
Bilingual Edition
Translated by Muriel Almon
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