Thomas

Mann

Der Tod in Venedig

Death in Venice

Translated by Kenneth Burke
Alignment and Amendments © Doppeltext 2023

TITLE PAGE

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

COLOPHON

ERSTES KAPITEL

Gu­stav Aschen­bach oder von Aschen­bach, wie seit sei­nem fünf­zigs­ten Ge­burts­tag amt­lich sein Name lau­te­te,
hat­te an ei­nem Früh­lings­nach­mit­tag des Jah­res 19.., das un­se­rem Kon­ti­nent mo­na­te­lang eine so ge­fahr­dro­hen­de Mie­ne zeig­te,
von sei­ner Woh­nung in der Prinz-Re­gen­ten­stra­ße zu Mün­chen aus, al­lein einen wei­te­ren Spa­zier­gang un­ter­nom­men.
Über­reizt von der schwie­ri­gen und ge­fähr­li­chen, eben jetzt eine höchs­te Be­hut­sam­keit, Um­sicht, Ein­dring­lich­keit und Ge­nau­ig­keit des Wil­lens er­for­dern­den Ar­beit der Vor­mit­tags­stun­den,
hat­te der Schrift­stel­ler dem Fort­schwin­gen des pro­du­zie­ren­den Trieb­werks in sei­nem In­nern,
je­nem »mo­tus ani­mi con­ti­nu­us«, worin nach Ci­ce­ro das We­sen der Be­red­sam­keit be­steht,
auch nach der Mit­tags­mahl­zeit nicht Ein­halt zu tun ver­mocht und den ent­las­ten­den Schlum­mer nicht ge­fun­den, der ihm, bei zu­neh­men­der Ab­nutz­bar­keit sei­ner Kräf­te, ein­mal un­ter­tags so nö­tig war.
So hat­te er bald nach dem Tee das Freie ge­sucht, in der Hoff­nung, daß Luft und Be­we­gung ihn wie­der­her­stel­len und ihm zu ei­nem er­sprieß­li­chen Abend ver­hel­fen wür­den.
Es war An­fang Mai und, nach naß­kal­ten Wo­chen, ein falscher Hoch­som­mer ein­ge­fal­len.
Der Eng­li­sche Gar­ten, ob­gleich nur erst zart be­laubt, war dump­fig wie im Au­gust
und in der Nähe der Stadt vol­ler Wa­gen und Spa­zier­gän­ger ge­we­sen.
Beim Au­meis­ter, wo­hin stil­le­re und stil­le­re Wege ihn ge­führt,
hat­te Aschen­bach eine klei­ne Wei­le den volks­tüm­lich be­leb­ten Wirts­gar­ten über­blickt, an des­sen Ran­de ei­ni­ge Drosch­ken und Equi­pa­gen hiel­ten,
hat­te von dort bei sin­ken­der Son­ne sei­nen Heim­weg au­ßer­halb des Parks über die of­fe­ne Flur ge­nom­men
und er­war­te­te, da er sich müde fühl­te und über Föhring Ge­wit­ter droh­te, am Nörd­li­chen Fried­hof die Tram, die ihn in ge­ra­der Li­nie zur Stadt zu­rück­brin­gen soll­te.
Zu­fäl­lig fand er den Hal­te­platz und sei­ne Um­ge­bung von Men­schen leer.
We­der auf der ge­pflas­ter­ten Un­ge­r­er­stra­ße, de­ren Schie­nen­ge­lei­se sich ein­sam glei­ßend ge­gen Schwa­bing er­streck­ten, noch auf der Föhrin­ger Chaus­see war ein Fuhr­werk zu se­hen;
hin­ter den Zäu­nen der Stein­met­ze­rei­en, wo zu Kauf ste­hen­de Kreu­ze, Ge­dächt­nis­ta­feln und Mo­nu­men­te ein zwei­tes, un­be­haus­tes Grä­ber­feld bil­den, reg­te sich nichts,
und das by­zan­ti­ni­sche Bau­werk der Aus­seg­nungs­hal­le ge­gen­über lag schwei­gend im Ab­glanz des schei­den­den Ta­ges.
Ihre Stirn­sei­te, mit grie­chi­schen Kreu­zen und hie­ra­ti­schen Schil­de­rei­en in lich­ten Far­ben ge­schmückt,
weist über­dies sym­me­trisch an­ge­ord­ne­te In­schrif­ten in Gold­let­tern auf, aus­ge­wähl­te, das jen­sei­ti­ge Le­ben be­tref­fen­de Schrift­wor­te
wie etwa: »Sie ge­hen ein in die Woh­nung Got­tes« oder: »Das ewi­ge Licht leuch­te ih­nen«;
und der War­ten­de hat­te wäh­rend ei­ni­ger Mi­nu­ten eine erns­te Zer­streu­ung dar­in ge­fun­den,
die For­meln ab­zu­le­sen und sein geis­ti­ges Auge in ih­rer durch­schei­nen­den Mys­tik sich ver­lie­ren zu las­sen,
als er, aus sei­nen Träu­me­rei­en zu­rück­keh­rend, im Por­ti­kus, ober­halb der bei­den apo­ka­lyp­ti­schen Tie­re, wel­che die Frei­trep­pe be­wa­chen, einen Mann be­merk­te,
des­sen nicht ganz ge­wöhn­li­che Er­schei­nung sei­nen Ge­dan­ken eine völ­lig an­de­re Rich­tung gab.
Ob er nun aus dem In­nern der Hal­le durch das bron­ze­ne Tor her­vor­ge­tre­ten oder von au­ßen un­ver­se­hens her­an und hin­auf ge­langt war, blieb un­ge­wiß.
Aschen­bach, ohne sich son­der­lich in die Fra­ge zu ver­tie­fen, neig­te zur ers­te­ren An­nah­me.
Mä­ßig hoch­ge­wach­sen, ma­ger, bart­los und auf­fal­lend stumpf­nä­sig,
ge­hör­te der Mann zum rot­haa­ri­gen Typ und be­saß des­sen mil­chi­ge und som­mer­spros­si­ge Haut.
Of­fen­bar war er durch­aus nicht ba­ju­wa­ri­schen Schla­ges: wie denn we­nigs­tens der breit und ge­ra­de ge­ran­de­te Bast­hut, der ihm den Kopf be­deck­te,
sei­nem Aus­se­hen ein Ge­prä­ge des Fremd­län­di­schen und Weit­her­kom­men­den ver­lieh.
Frei­lich trug er dazu den lan­des­üb­li­chen Ruck­sack um die Schul­tern ge­schnallt, einen gelb­li­chen Gur­t­an­zug aus Lo­den­stoff, wie es schi­en,
einen grau­en Wet­ter­kra­gen über dem lin­ken Un­ter­arm, den er in die Wei­che ge­stützt hielt,
und in der Rech­ten einen mit ei­ser­ner Spit­ze ver­se­he­nen Stock, wel­chen er schräg ge­gen den Bo­den stemm­te und auf des­sen Krücke er, bei ge­kreuz­ten Fü­ßen, die Hüf­te lehn­te.
Er­ho­be­nen Hauptes, so daß an sei­nem ha­ger dem lo­sen Sport­hemd ent­wach­sen­den Hal­se der Adams­ap­fel stark und nackt her­vor­trat,
blick­te er mit farb­lo­sen, rot be­wim­per­ten Au­gen, zwi­schen de­nen, son­der­bar ge­nug zu sei­ner kurz auf­ge­wor­fe­nen Nase pas­send, zwei senk­rech­te, ener­gi­sche Fur­chen stan­den, scharf spä­hend ins Wei­te.
So – und viel­leicht trug sein er­höh­ter und er­hö­hen­der Stand­ort zu die­sem Ein­druck bei
– hat­te sei­ne Hal­tung et­was her­risch Über­schau­en­des, Küh­nes oder selbst Wil­des;
denn sei es, daß er, ge­blen­det, ge­gen die un­ter­ge­hen­de Son­ne gri­mas­sier­te oder daß es sich um eine dau­ern­de phy­sio­gno­mi­sche Ent­stel­lung han­del­te:
sei­ne Lip­pen schie­nen zu kurz, sie wa­ren völ­lig von den Zäh­nen zu­rück­ge­zo­gen, der­ge­stalt, daß die­se, bis zum Zahn­fleisch bloß­ge­legt, weiß und lang da­zwi­schen her­vor­bleck­ten.
Wohl mög­lich, daß Aschen­bach es bei sei­ner halb zer­streu­ten, halb in­qui­si­ti­ven Mus­te­rung des Frem­den an Rück­sicht hat­te feh­len las­sen;
denn plötz­lich ward er ge­wahr, daß je­ner sei­nen Blick er­wi­der­te und zwar so krie­ge­risch, so ge­ra­de ins Auge hin­ein,
so of­fen­kun­dig ge­son­nen, die Sa­che aufs Äu­ßers­te zu trei­ben und den Blick des an­dern zum Ab­zug zu zwin­gen,
daß Aschen­bach, pein­lich be­rührt, sich ab­wand­te und einen Gang die Zäu­ne ent­lang be­gann, mit dem bei­läu­fi­gen Ent­schluß, des Men­schen nicht wei­ter acht­zu­ha­ben.
Er hat­te ihn in der nächs­ten Mi­nu­te ver­ges­sen.
Moch­te nun aber das Wan­de­rer­haf­te in der Er­schei­nung des Frem­den auf sei­ne Ein­bil­dungs­kraft ge­wirkt ha­ben oder sonst ir­gend­ein phy­si­scher oder see­li­scher Ein­fluß im Spie­le sein:
eine selt­sa­me Aus­wei­tung sei­nes In­nern ward ihm ganz über­ra­schend be­wußt, eine Art schwei­fen­der Un­ru­he,
ein ju­gend­lich durs­ti­ges Ver­lan­gen in die Fer­ne, ein Ge­fühl, so leb­haft, so neu oder doch so längst ent­wöhnt und ver­lernt,
daß er, die Hän­de auf dem Rücken und den Blick am Bo­den, ge­fes­selt ste­hen blieb, um die Emp­fin­dung auf We­sen und Ziel zu prü­fen.
Es war Rei­se­lust, nichts wei­ter; aber wahr­haft als An­fall auf­tre­tend und ins Lei­den­schaft­li­che, ja bis zur Sin­nes­täu­schung ge­stei­gert.
Sei­ne Be­gier­de ward se­hend, sei­ne Ein­bil­dungs­kraft, noch nicht zur Ruhe ge­kom­men seit den Stun­den der Ar­beit,
schuf sich ein Bei­spiel für alle Wun­der und Schre­cken der man­nig­fal­ti­gen Erde, die sie auf ein­mal sich vor­zu­stel­len be­strebt war:
er sah, sah eine Land­schaft, ein tro­pi­sches Sumpf­ge­biet un­ter dick­duns­ti­gem Him­mel, feucht, üp­pig und un­ge­heu­er,
eine Art Ur­welt­wild­nis aus In­seln, Mo­räs­ten und Schlamm füh­ren­den Was­ser­ar­men,
– sah aus gei­lem Far­ren­ge­wu­cher, aus Grün­den von fet­tem, ge­quol­le­nem und aben­teu­er­lich blü­hen­dem Pflan­zen­werk haa­ri­ge Pal­men­schäf­te nah und fern em­por­stre­ben,
sah wun­der­lich un­ge­stal­te Bäu­me ihre Wur­zeln durch die Luft in den Bo­den, in sto­cken­de, grün­schat­tig spie­geln­de Flu­ten ver­sen­ken,
wo zwi­schen schwim­men­den Blu­men, die milch­weiß und groß wie Schüs­seln wa­ren,
Vö­gel von frem­der Art, hoch­schult­rig, mit un­för­mi­gen Schnä­beln, im Seich­ten stan­den und un­be­weg­lich zur Sei­te blick­ten,
sah zwi­schen den kno­ti­gen Rohr­stäm­men des Bam­bus­dickichts die Lich­ter ei­nes kau­ern­den Ti­gers fun­keln
– und fühl­te sein Herz po­chen vor Ent­set­zen und rät­sel­haf­tem Ver­lan­gen.
Dann wich das Ge­sicht; und mit ei­nem Kopf­schüt­teln nahm Aschen­bach sei­ne Pro­me­na­de an den Zäu­nen der Grab­stein­met­ze­rei­en wie­der auf.

Thomas Mann
Der Tod in Venedig / Death in Venice
Bilingual Edition
Translated by Kenneth Burke

This is an enhanced ebook. Click or tap on the text to display the translation.

Both the original work and the translation are in the public domain. All rights for the aligned bilingual editions and for the amended translations are owned by Doppeltext.

We offer many other innovative bilingual titles. Visit www.doppeltext.com to learn more.

We welcome your feedback and questions.

Doppeltext
Igor Kogan & Tatiana Zelenska
Karwendelstr. 25
81369 Munich
Germany
+49-89-74 79 28 26
www.doppeltext.com
info@doppeltext.com