Johann Wolfgang von

Goethe

Die Leiden des jungen Werther

The Sorrows of Young Werther

Translated by R. Dillon Boylan
Illustrated by Tony Johannot
Alignment and Amendments © Doppeltext 2023

TITLE PAGE

ERSTES BUCH

ZWEITES BUCH

COLOPHON

Was ich von der Ge­schich­te des ar­men Wer­ther nur habe auf­fin­den kön­nen, habe ich mit Fleiß ge­sam­melt
und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s dan­ken wer­det.
Ihr könnt sei­nem Geist und sei­nem Cha­rak­ter eure Be­wun­de­rung und Lie­be, sei­nem Schick­sa­le eure Trä­nen nicht ver­sa­gen.
Und du gute See­le, die du eben den Drang fühlst wie er, schöp­fe Trost aus sei­nem Lei­den,
und laß das Büch­lein dei­nen Freund sein, wenn du aus Ge­schick oder ei­ge­ner Schuld kei­nen nä­he­ren fin­den kannst.

ERSTES BUCH

Am 4. Mai 1771.
Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bes­ter Freund, was ist das Herz des Men­schen!
Dich zu ver­las­sen, den ich so lie­be, von dem ich un­zer­trenn­lich war, und froh zu sein! Ich weiß, du ver­zeihst mir’s.
Wa­ren nicht mei­ne üb­ri­gen Ver­bin­dun­gen recht aus­ge­sucht vom Schick­sal, um ein Herz wie das mei­ne zu ängs­ti­gen? Die arme Leo­no­re! Und doch war ich un­schul­dig.
Konnt’ ich da­für, daß, wäh­rend die ei­gen­sin­ni­gen Rei­ze ih­rer Schwes­ter mir eine an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung ver­schaff­ten,
daß eine Lei­den­schaft in dem ar­men Her­zen sich bil­de­te?
Und doch – bin ich ganz un­schul­dig? Hab’ ich nicht ihre Emp­fin­dun­gen ge­nährt?
Hab’ ich mich nicht an den ganz wah­ren Aus­drücken der Na­tur, die uns so oft zu la­chen mach­ten, so we­nig lä­cher­lich sie wa­ren, selbst er­getzt?
Hab’ ich nicht – o was ist der Mensch, daß er über sich kla­gen darf!
Ich will, lie­ber Freund, ich ver­spre­che dir’s, ich will mich bes­sern,
will nicht mehr ein biß­chen Übel, das uns das Schick­sal vor­legt, wie­der­käu­en, wie ich’s im­mer ge­tan habe;
ich will das Ge­gen­wär­ti­ge ge­nie­ßen, und das Ver­gan­ge­ne soll mir ver­gan­gen sein.
Ge­wiß, du hast recht, Bes­ter, der Schmer­zen wä­ren min­der un­ter den Men­schen, wenn sie nicht
– Gott weiß, warum sie so ge­macht sind! – mit so viel Em­sig­keit der Ein­bil­dungs­kraft sich be­schäf­tig­ten,
die Er­in­ne­run­gen des ver­gan­ge­nen Übels zu­rück­zu­ru­fen, eher als eine gleich­gül­ti­ge Ge­gen­wart zu er­tra­gen.
Du bist so gut, mei­ner Mut­ter zu sa­gen, daß ich ihr Ge­schäft bes­tens be­trei­ben und ihr ehs­tens Nach­richt da­von ge­ben wer­de.
Ich habe mei­ne Tan­te ge­spro­chen und bei wei­tem das böse Weib nicht ge­fun­den, das man bei uns aus ihr macht.
Sie ist eine mun­te­re, hef­ti­ge Frau von dem bes­ten Her­zen.
Ich er­klär­te ihr mei­ner Mut­ter Be­schwer­den über den zu­rück­ge­hal­te­nen Erb­schafts­an­teil;
sie sag­te mir ihre Grün­de, Ur­sa­chen und die Be­din­gun­gen, un­ter wel­chen sie be­reit wäre, al­les her­aus­zu­ge­ben, und mehr als wir ver­lang­ten
– kurz, ich mag jetzt nichts da­von schrei­ben, sage mei­ner Mut­ter, es wer­de al­les gut ge­hen.
Und ich habe, mein Lie­ber, wie­der bei die­sem klei­nen Ge­schäft ge­fun­den,
daß Miß­ver­ständ­nis­se und Träg­heit viel­leicht mehr Ir­run­gen in der Welt ma­chen als List und Bos­heit.
We­nigs­tens sind die bei­den letz­te­ren ge­wiß sel­te­ner.
Üb­ri­gens be­fin­de ich mich hier gar wohl.
Die Ein­sam­keit ist mei­nem Her­zen köst­li­cher Bal­sam in die­ser pa­ra­die­si­schen Ge­gend,
und die­se Jah­res­zeit der Ju­gend wärmt mit al­ler Fül­le mein oft schau­dern­des Herz.
Je­der Baum, jede He­cke ist ein Strauß von Blü­ten, und man möch­te zum Mai­en­kä­fer wer­den,
um in dem Meer von Wohl­ge­rü­chen her­um­schwe­ben und alle sei­ne Nah­rung dar­in fin­den zu kön­nen.
Die Stadt selbst ist un­an­ge­nehm, da­ge­gen rings um­her eine un­aus­sprech­li­che Schön­heit der Na­tur.
Das be­wog den ver­stor­be­nen Gra­fen von M., einen Gar­ten auf ei­nem der Hü­gel an­zu­le­gen, die mit der schöns­ten Man­nig­fal­tig­keit sich kreu­zen und die lieb­lichs­ten Tä­ler bil­den.
Der Gar­ten ist ein­fach, und man fühlt gleich bei dem Ein­trit­te, daß nicht ein wis­sen­schaft­li­cher Gärt­ner,
son­dern ein füh­len­des Herz den Plan ge­zeich­net, das sei­ner selbst hier ge­nie­ßen woll­te.
Schon man­che Trä­ne hab’ ich dem Ab­ge­schie­de­nen in dem ver­fal­le­nen Ka­bi­nett­chen ge­weint,
das sein Lieb­lings­plätz­chen war und auch mei­nes ist.
Bald wer­de ich Herr vom Gar­ten sein; der Gärt­ner ist mir zu­ge­tan, nur seit den paar Ta­gen, und er wird sich nicht übel da­bei be­fin­den.
Am 10. Mai.
Eine wun­der­ba­re Hei­ter­keit hat mei­ne gan­ze See­le ein­ge­nom­men, gleich den sü­ßen Früh­lings­mor­gen, die ich mit gan­zem Her­zen ge­nie­ße.
Ich bin al­lein und freue mich mei­nes Le­bens in die­ser Ge­gend, die für sol­che See­len ge­schaf­fen ist wie die mei­ne.
Ich bin so glück­lich, mein Bes­ter, so ganz in dem Ge­füh­le von ru­hi­gem Da­sein ver­sun­ken, daß mei­ne Kunst dar­un­ter lei­det.
Ich könn­te jetzt nicht zeich­nen, nicht einen Strich, und bin nie ein grö­ße­rer Ma­ler ge­we­sen als in die­sen Au­gen­bli­cken.
Wenn das lie­be Tal um mich dampft, und die hohe Son­ne an der Ober­flä­che der un­durch­dring­li­chen Fins­ter­nis mei­nes Wal­des ruht,
und nur ein­zel­ne Strah­len sich in das in­ne­re Hei­lig­tum steh­len, ich dann im ho­hen Gra­se am fal­len­den Ba­che lie­ge,
und nä­her an der Erde tau­send man­nig­fal­ti­ge Gräs­chen mir merk­wür­dig wer­den;
wenn ich das Wim­meln der klei­nen Welt zwi­schen Hal­men, die un­zäh­li­gen, un­er­gründ­li­chen Ge­stal­ten der Würm­chen, der Mück­chen nä­her an mei­nem Her­zen füh­le,
und füh­le die Ge­gen­wart des All­mäch­ti­gen, der uns nach sei­nem Bil­de schuf, das We­hen des Al­lie­ben­den, der uns in ewi­ger Won­ne schwe­bend trägt und er­hält;
mein Freund! Wenn’s dann um mei­ne Au­gen däm­mert, und die Welt um mich her und der Him­mel ganz in mei­ner See­le ruhn wie die Ge­stalt ei­ner Ge­lieb­ten
– dann seh­ne ich mich oft und den­ke: ach könn­test du das wie­der aus­drücken, könn­test du dem Pa­pie­re das ein­hau­chen, was so voll, so warm in dir lebt,
daß es wür­de der Spie­gel dei­ner See­le, wie dei­ne See­le ist der Spie­gel des un­end­li­chen Got­tes!
– mein Freund – aber ich gehe dar­über zu­grun­de, ich er­lie­ge un­ter der Ge­walt der Herr­lich­keit die­ser Er­schei­nun­gen.
Am 12. Mai.
Ich weiß nicht, ob täu­schen­de Geis­ter um die­se Ge­gend schwe­ben,
oder ob die war­me, himm­li­sche Phan­ta­sie in mei­nem Her­zen ist, die mir al­les rings um­her so pa­ra­di­sisch macht.
Das ist gleich vor dem Orte ein Brun­nen, ein Brun­nen, an den ich ge­bannt bin wie Me­lu­si­ne mit ih­ren Schwes­tern.
– Du gehst einen klei­nen Hü­gel hin­un­ter und fin­dest dich vor ei­nem Ge­wöl­be, da wohl zwan­zig Stu­fen hin­ab­ge­hen, wo un­ten das klars­te Was­ser aus Mar­mor­fel­sen quillt.
Die klei­ne Mau­er, die oben um­her die Ein­fas­sung macht, die ho­hen Bäu­me,
die den Platz rings um­her be­de­cken, die Küh­le des Orts; das hat al­les so was An­züg­li­ches, was Schau­er­li­ches.
Es ver­geht kein Tag, daß ich nicht eine Stun­de da sit­ze.
Da kom­men die Mäd­chen aus der Stadt und ho­len Was­ser, das harm­lo­ses­te Ge­schäft und das nö­tigs­te, das ehe­mals die Töch­ter der Kö­ni­ge selbst ver­rich­te­ten.
Wenn ich da sit­ze, so lebt die pa­tri­ar­cha­li­sche Idee so leb­haft um mich, wie sie,
alle die Alt­vä­ter, am Brun­nen Be­kannt­schaft ma­chen und frei­en, und wie um die Brun­nen und Quel­len wohl­tä­ti­ge Geis­ter schwe­ben.
O der muß nie nach ei­ner schwe­ren Som­mer­tags­wan­de­rung sich an des Brun­nens Küh­le ge­labt ha­ben, der das nicht mit­emp­fin­den kann.
Am 13. Mai.
Du fragst, ob du mir mei­ne Bü­cher schi­cken sollst? – lie­ber, ich bit­te dich um Got­tes wil­len, laß mir sie vom Hal­se!
Ich will nicht mehr ge­lei­tet, er­mun­tert, an­ge­feu­ert sein, braust die­ses Herz doch ge­nug aus sich selbst;
ich brau­che Wie­gen­ge­sang, und den habe ich in sei­ner Fül­le ge­fun­den in mei­nem Ho­mer.
Wie oft lull’ ich mein em­pör­tes Blut zur Ruhe, denn so un­gleich, so un­s­tet hast du nichts ge­sehn als die­ses Herz.
Lie­ber! Brauch’ ich dir das zu sa­gen, der du so oft die Last ge­tra­gen hast, mich vom Kum­mer zur Aus­schwei­fung
und von sü­ßer Me­lan­cho­lie zur ver­derb­li­chen Lei­den­schaft über­ge­hen zu sehn? Auch hal­te ich mein Herz­chen wie ein kran­kes Kind; je­der Wil­le wird ihm ge­stat­tet.
Sage das nicht wei­ter; es gibt Leu­te, die mir es ver­übeln wür­den.
Am 15. Mai.
Die ge­rin­gen Leu­te des Or­tes ken­nen mich schon und lie­ben mich, be­son­ders die Kin­der.
Eine trau­ri­ge Be­mer­kung hab’ ich ge­macht. Wie ich im An­fan­ge mich zu ih­nen ge­sell­te, sie freund­schaft­lich frag­te über dies und das,
glaub­ten ei­ni­ge, ich woll­te ih­rer spot­ten, und fer­tig­ten mich wohl gar grob ab.
Ich ließ mich das nicht ver­drie­ßen; nur fühl­te ich, was ich schon oft be­merkt habe, auf das leb­haf­tes­te:
Leu­te von ei­ni­gem Stan­de wer­den sich im­mer in kal­ter Ent­fer­nung vom ge­mei­nen Vol­ke hal­ten, als glaub­ten sie durch An­nä­he­rung zu ver­lie­ren;
und dann gibt’s Flücht­lin­ge und üble Spaß­vö­gel, die sich her­ab­zu­las­sen schei­nen,
um ih­ren Über­mut dem ar­men Vol­ke de­sto emp­find­li­cher zu ma­chen.
Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich sind, noch sein kön­nen;
aber ich hal­te da­für, daß der, der nö­tig zu ha­ben glaubt, vom so ge­nann­ten Pö­bel sich zu ent­fer­nen, um den Re­spekt zu er­hal­ten,
eben­so ta­del­haft ist als ein Fei­ger, der sich vor sei­nem Fein­de ver­birgt, weil er zu un­ter­lie­gen fürch­tet.
Letzthin kam ich zum Brun­nen und fand ein jun­ges Dienst­mäd­chen,
das ihr Ge­fäß auf die un­ters­te Trep­pe ge­setzt hat­te und sich um­sah, ob kei­ne Ka­merä­din kom­men woll­te, ihr es auf den Kopf zu hel­fen.
Ich stieg hin­un­ter und sah sie an. – »Soll ich Ihr hel­fen, Jung­fer?« sag­te ich. – sie ward rot über und über. – »O nein, Herr!« sag­te sie.
– »Ohne Um­stän­de«. – sie leg­te ih­ren Krin­gen zu­recht, und ich half ihr. Sie dank­te und stieg hin­auf.

Johann Wolfgang von Goethe
Die Leiden des jungen Werther / The Sorrows of Young Werther
Bilingual Edition
Translated by R. Dillon Boylan
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