Theodor

Storm

Der Schimmelreiter

The Rider on the White Horse

Translated by Margarete Münsterberg
Alignment and Amendments © Doppeltext 2022

TITLE PAGE

DER SCHIMMELREITER

COLOPHON

Was ich zu be­rich­ten be­ab­sich­ti­ge, ist mir vor reich­lich ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert im Hau­se mei­ner Ur­groß­mut­ter, der al­ten Frau Se­na­tor Fed­der­sen, kund­ge­wor­den,
wäh­rend ich, an ih­rem Lehn­stuhl sit­zend, mich mit dem Le­sen ei­nes in blaue Pap­pe ein­ge­bun­de­nen Zeit­schrif­ten­hef­tes be­schäf­tig­te;
ich ver­mag mich nicht mehr zu ent­sin­nen, ob von den »Leip­zi­ger« oder von »Pap­pes Ham­bur­ger Le­se­früch­ten«.
Noch fühl ich es gleich ei­nem Schau­er, wie da­bei die lin­de Hand der über Acht­zig­jäh­ri­gen mit­un­ter lieb­ko­send über das Haupt­haar ih­res Ur­en­kels hin­g­litt.
Sie selbst und jene Zeit sind längst be­gra­ben; ver­ge­bens auch habe ich seit­dem je­nen Blät­tern nach­ge­forscht,
und ich kann da­her um so we­ni­ger we­der die Wahr­heit der Tat­sa­chen ver­bür­gen, als, wenn je­mand sie be­strei­ten woll­te, da­für auf­ste­hen;
nur so viel kann ich ver­si­chern, daß ich sie seit je­ner Zeit, ob­gleich sie durch kei­nen äu­ße­ren An­laß in mir aufs neue be­lebt wur­den, nie­mals aus dem Ge­dächt­nis ver­lo­ren habe.
* * *
Es war im drit­ten Jahr­zehnt un­se­res Jahr­hun­derts, an ei­nem Ok­to­ber­nach­mit­tag
– so be­gann der da­ma­li­ge Er­zäh­ler –, als ich bei star­kem Un­wet­ter auf ei­nem nord­frie­si­schen Deich ent­langritt.
Zur Lin­ken hat­te ich jetzt schon seit über ei­ner Stun­de die öde, be­reits von al­lem Vieh ge­leer­te Marsch,
zur Rech­ten, und zwar in un­be­hag­lichs­ter Nähe, das Wat­ten­meer der Nord­see;
zwar soll­te man vom Dei­che aus auf Hal­li­gen und In­seln se­hen kön­nen;
aber ich sah nichts als die gelb­grau­en Wel­len, die un­auf­hör­lich wie mit Wut­ge­brüll an den Deich hin­auf­schlu­gen
und mit­un­ter mich und das Pferd mit schmut­zi­gem Schaum be­spritz­ten;
da­hin­ter wüs­te Däm­me­rung, die Him­mel und Erde nicht un­ter­schei­den ließ; denn auch der hal­be Mond,
der jetzt in der Höhe stand, war meist von trei­ben­dem Wol­ken­dun­kel über­zo­gen.
Es war eis­kalt; mei­ne ver­klom­me­nen Hän­de konn­ten kaum den Zü­gel hal­ten,
und ich ver­dach­te es nicht den Krä­hen und Mö­wen, die sich fort­wäh­rend kräch­zend und ga­ckernd vom Sturm ins Land hin­ein­trei­ben lie­ßen.
Die Nacht­däm­me­rung hat­te be­gon­nen, und schon konn­te ich nicht mehr mit Si­cher­heit die Hu­fen mei­nes Pfer­des er­ken­nen;
kei­ne Men­schen­see­le war mir be­geg­net, ich hör­te nichts als das Ge­schrei der Vö­gel,
wenn sie mich oder mei­ne treue Stu­te fast mit den lan­gen Flü­geln streif­ten, und das To­ben von Wind und Was­ser.
Ich leug­ne nicht, ich wünsch­te mich mit­un­ter in si­che­res Quar­tier.
Das Wet­ter dau­er­te jetzt in den drit­ten Tag,
und ich hat­te mich schon über Ge­bühr von ei­nem mir be­son­ders lie­ben Ver­wand­ten auf sei­nem Hofe hal­ten las­sen, den er in ei­ner der nörd­li­che­ren Har­den be­saß.
Heu­te aber ging es nicht län­ger; ich hat­te Ge­schäf­te in der Stadt, die auch jetzt wohl noch ein paar Stun­den weit nach Sü­den vor mir lag,
und trotz al­ler Über­re­dungs­küns­te des Vet­ters und sei­ner lie­ben Frau,
trotz der schö­nen selbst­ge­zo­ge­nen Pe­ri­net­te- und Grand-Ri­chard-Äp­fel, die noch zu pro­bie­ren wa­ren, am Nach­mit­tag war ich da­von­ge­rit­ten.
»Wart nur, bis du ans Meer kommst«, hat­te er noch an sei­ner Haus­tür mir nach­ge­ru­fen; »du kehrst noch wie­der um; dein Zim­mer wird dir vor­be­hal­ten!«
Und wirk­lich, einen Au­gen­blick, als eine schwar­ze Wol­ken­schicht es pech­fins­ter um mich mach­te
und gleich­zei­tig die heu­len­den Böen mich samt mei­ner Stu­te vom Deich her­ab­zu­drän­gen such­ten,
fuhr es mir wohl durch den Kopf. ›Sei kein Narr! Kehr um und setz dich zu dei­nen Freun­den ins war­me Nest.‹
Dann aber fiel’s mir ein, der Weg zu­rück war wohl noch län­ger als der nach mei­nem Rei­se­ziel;
und so trab­te ich wei­ter, den Kra­gen mei­nes Man­tels um die Oh­ren zie­hend.
Jetzt aber kam auf dem Dei­che et­was ge­gen mich her­an;
ich hör­te nichts; aber im­mer deut­li­cher, wenn der hal­be Mond ein kar­ges Licht her­a­bließ, glaub­te ich eine dunkle Ge­stalt zu er­ken­nen,
und bald, da sie nä­her kam, sah ich es, sie saß auf ei­nem Pfer­de, ei­nem hoch­bei­ni­gen ha­ge­ren Schim­mel;
ein dunk­ler Man­tel flat­ter­te um ihre Schul­tern, und im Vor­bei­flie­gen sa­hen mich zwei bren­nen­de Au­gen aus ei­nem blei­chen Ant­litz an.
Wer war das? Was woll­te der? – Und jetzt fiel mir bei, ich hat­te kei­nen Huf­schlag, kein Keu­chen des Pfer­des ver­nom­men;
und Roß und Rei­ter wa­ren doch hart an mir vor­bei­ge­fah­ren!

Theodor Storm
Der Schimmelreiter / The Rider on the White Horse
Bilingual Edition
Translated by Margarete Münsterberg

This is an enhanced ebook. Click or tap on the text to display the translation.

Both the original work and the translation are in the public domain. All rights for the aligned bilingual editions and for the amended translations are owned by Doppeltext.

We offer many other innovative bilingual titles. Visit www.doppeltext.com to learn more.

We welcome your feedback and questions.

Doppeltext
Igor Kogan & Tatiana Zelenska
Karwendelstr. 25
81369 Munich
Germany
+49-89-74 79 28 26
www.doppeltext.com
info@doppeltext.com